Indien verursacht bei den meisten Westlern einen Kulturschock, wenn sie dieses unglaubliche Land zum ersten Mal besuchen. Der allgegenwärtige Lärm – ein Mix aus Autohupen, schreienden Menschen, bellenden Hunden, lauter, fremdartiger Musik – die Menschenmassen, die Armut, all die Gerüche und der Schmutz … viele sind von all dem, das so ganz anders ist als in unseren geleckten, wohlgeordneten, kalten westlichen Städten, entsetzt und unangenehm berührt. Und wenn man sich für die erste Indienreise gleich noch Tiruvannamalai zu Maha Deepam aussucht, sollte der Schock eigentlich um so größer sein. Denn dort am Arunachala, dem heiligen Berg, findet alljährlich ein riesengroßes Lichterfest statt, das von den Hindus in Tamil Nadu, Sri Lanka und Kerala gefeiert wird und zu welchem mehr als eine halbe Million Pilger ziehen. Doch obwohl ich fast fünfzig Jahre alt habe werden müssen, um diese Reise zu machen und auch sonst nicht besonders viel in der Welt herumgekommen bin, fühlte ich mich in Indien von der ersten Sekunde an einfach nur zu Hause! Nichts hier ist mir fremd, alles scheint seltsam vertraut, halt so, wie nach Hause zu kommen. Ich hatte dies schon vermutet, da einfach zu viele schicksalhafte Koinzidenzen darauf hinweisen, dass ich wohl so einige Leben in Indien gelebt habe (und ja, auch der Glaube an Reinkarnation ist für mich schon von klein auf etwas vom Natürlichsten der Welt). Jetzt aber weiß ich, dass Indien nicht nur mein Karma, sondern ein Stück Heimat ist. Und nicht nur das, ich habe hier auch mit den wundervollen Menschen vom WIDE Children‘s Home eine Familie gefunden.

Das Einzige, was mich wirklich nervte, ja zutiefst störte und grantig machte (und später sogar krank!) in meinen ersten Tagen in Indien war der Regen. Denn die Regenzeit hätte eigentlich Ende November schon vorbei sein müssen. Aber nicht nur Indien, sondern leider auch Regen (und Wasser im Allgemeinen) ist mein Karma. Der Regen verfolgte mich nicht nur über den Ozean bis auf diesen anderen Kontinent, er hatte sogar versucht, mich von dieser Reise abzuhalten: für den Tag meiner Ankunft in Chennai am 19. November war ein heftiger Zyklon vorhergesagt gewesen! Davon war zwar glücklicherweise nichts zu sehen, als das Flugzeug landete, und auch die ersten drei Tage blieb es weitestgehend trocken. Doch dann, genau zu Giri Pradakshina, holte mich das Regen-Karma ein und vermieste mir das Pilgern um den Berg.

Giri bedeutet Hügel; Pradakshina bedeutet das Gehen im Uhrzeigersinn um einen heiligen Ort, wobei die rechte Seite dem Anbetungsobjekt zugewandt ist. Mit dem heiligen Ort ist in Tiruvannamalai der heilige Berg Arunachala gemeint. Und einfach nur „heilig“ ist hier gewaltig untertrieben: der erloschene Vulkan wird von den Gläubigen als das Herz der Welt und Verkörperung Shivas betrachtet. Seit ich vor gut anderthalb Jahren Advaita Yoga und den Satsang von Sri Ramana Maharshi, Papaji und Mooji entdeckt habe, ist mein Wunsch, nach Truvannamalai zu reisen (wo sich auch Sri Ramanas Ashram befindet), immer größer geworden.

Die Größe dieses Giri Pradakshina wurde ausführlich in „Arunachala Puranam“ beschrieben. Sadasiva sagte: „Um diesen Hügel herumzugehen, ist gut. Das Wort ‚Pradakshina‘ hat eine typische Bedeutung. Der Buchstabe ‚Pra’ steht für die Beseitigung aller Arten von Sünden. ‚Da‘ steht für die Erfüllung der Wünsche; ‚Kshi‘ steht für die Freiheit von zukünftigen Geburten. ‚Na‘ bedeutet Befreiung durch Jnana.“ Es ist wirklich schwierig, die Freude und das Glück zu beschreiben, die dieses Pradakshina bringt. Der Körper wird müde, die Sinnesorgane verlieren an Kraft und alle Aktivitäten des Körpers werden von innen absorbiert. Es ist also möglich, sich selbst zu vergessen und in einen Zustand der Meditation zu geraten. Wenn man weiter geht, wird der Körper automatisch wie im Asana-Zustand harmonisiert. Der Körper wird also gesundheitlich verbessert. Daneben gibt es verschiedene Heilkräuter auf dem Hügel. Die Luft, die über diese Kräuter strömt, ist gut für die Lunge.

_ Sri Ramana Maharshi

So lief ich also dahin im Regen und versuchte, mein kleines menschliches Ego, das den Regen so sehr hasst, so gut als möglich beiseite zu lassen und alles einfach zu genießen. Etwa zu fünfzig Prozent gelang es mir auch; die andere Hälfte wollte aber nichts als einfach nur aus den nassen Sachen raus, unter die warme Dusche und an einem trockenen Platz einen heißen Kaffee trinken.

Trotzdem bin ich sehr glücklich, diesen Marsch von fünfzehn Kilometern rund um den Arunachala herum tatsächlich gemacht zu haben! Und das zu einer unmenschlich frühen Zeit: um 6 Uhr morgens gings los, denn so früh hat es noch nicht so viele Leute, obwohl es doch bereits ganz schön voll war. Wir hatten das riesengroße Glück, den Marsch zusammen mit Mala und Sehar machen zu dürfen, einem sehr sympathischen, spirituellen indischen Pärchen, die in den USA leben und jedes Jahr zu Maha Deepam nach Tiruvannamalai kommen. In der Menge darauf aufzupassen, einander nicht zu verlieren, hatten Lea und ich schon in den ersten zwei Tagen schnell intus gehabt, als wir mit unseren neuen Freunden von WIDE die großen Umzüge anschauen gingen, die jeden Abend um den Tempel herum stattfanden (siehe unteres Foto). Man drängelt frech und wenns eng wird, hält man sich an den Händen und bildet eine Kette.

Doch trotz der Menschenmassen lief bei dem großen Marsch um den Berg alles friedlich ab. Die allermeisten Menschen laufen barfuß. Hätte es nicht geregnet, hätte ich das wohl auch getan, aber der Regen hielt mich davon ab, obwohl der Matsch, mit dem der Boden überzogen war, für die Fußsohlen wohl sanfter ist als von heißer Sonne erwärmter trockener Asphalt. Aber ich hasse eben Regen und alles was damit zu tun hat. Ich trug meine Chala-Sandalen und war heilfroh, meinen Regenschutz nach Indien mitgeschleppt zu haben.

Und es ist definitiv eines der eindrücklichsten Erlebnisse meines Lebens: So viele besondere Gestalten; Sadhus in allen möglichen Schattierungen (der krasseste hatte einen dicken Stab durch die Zunge), Bettler, alte Weiblein, Krüppel und Marktschreier am Straßenrand. Dinge, die zum Verkauf feilgeboten werden, von denen ich keine Ahnung habe, was es überhaupt ist. Penetrant hupende Motorräder und Autos, die einen überholen und dabei nur haarscharf verfehlen. Die Fotos in diesem Beitrag stammen allerdings alle von den vorherigen Festival-Tagen, denn auf den Pilgermarsch um den Berg wollte ich die Kamera nicht mitnehmen.

Der achteckige Hügel ist von insgesamt acht Lingam-Tempeln (Asta Lingams) umgeben, je vier an den Kardinalpunkten der vier Himmelsrichtungen (Süd: Yama, West: Varuna, Nord: Kubera und Ost: Indra) und den Interkardinalpunkten (Südost: Agni, Südwest: Niruthi, Nordwest: Vayu und Nordosten: Esanaya). Das Achteck symbolisiert die untrennbare Beziehung des Einzelnen Teils zum Ganzen: während jeder einzelne Aspekt eigene, individuelle Lebensqualitäten darstellt, charakterisiert und belebt, steht das Oktagon im Gesamten für Einheit, Vernetzung und Vereinigung.

Bei jeder der acht Lingam-Tempel halten die Pilger an, beten und zünden ein Licht an – die Lichter gibts noch schön altmodisch als kleine Tontöpfchen, die mit Ghee gefüllt werden, oder dann, das 21. Jahrhundert lässt grüßen, als kleine runde weiße Brandbeschleuniger-Tabs, die man in eine Feuerschale wirft. Um diese Feuerschslen herrscht immer ein riesiges Gerangel.

So marschierten wir in diesem Gewirr aus Schirmen, bunten Saris und Plastik-Regenmänteln in Stille etwa fünf Stunden. Es ist wichtig, dass man den Berg komplett umrundet – gegen Ende checkte ich ständig auf meiner Navi-App, wie weit es noch ist. Man soll sich dabei auch immer wieder dem Berg zu wenden, doch dieser hüllte sich in dichte Wolken.

Für alle ist es gut, den Hügel zu umrunden. Es ist nicht einmal wichtig, ob man an dieses Pradakshina glaubt oder nicht, genauso wie Feuer alle, die es berühren, verbrennen wird, ob sie glauben, dass es dies tun wird oder nicht.

_Sri Ramana Maharshi

Abends, als es dunkel wurde, versammelten sich bei WIDE alle auf der riesigen, gedeckten Dachterrasse. Denn am Karthigai-Tag wird auf dem 2668 m hohen Arunachala eine riesige Feuerlampe angezündet, die im Umkreis von 35 km um den Heiligen Berg sichtbar ist (okay, bei diesem Sauwetter waren es sicher weniger). Das Feuer (deepam) heißt Maha Deepam; der gesamte Berg ist Shiva Lingam. Das Feuer brennt nur mit Ghee, 3500 kg davon wurden zuvor zu Fuß auf den Berg hoch geschleppt!

An diesem letzten Abend des Festivals wird auch die Haupt-Puja abgehalten: Reihen von Öllampen (Deepam) werden rund um Häuser und Straßen angezündet und Opfergaben dargebracht. Zu Kārttikai (Mitte November bis Mitte Dezember) steht der Mond gemäß dem tamilischen Kalender in Verbindung mit dem Sternbild Karthigai (Pleiaden) und Pournami. Die Anbetung dieser sechs Sterne ist gleichbedeutend mit der Verehrung von Lord Muruga.

Offenbar ist das Ganze ein wenig ähnlich wie bei unserem Sechseläuten: Punkt 18:00 wird auf dem Berg das große Feuer angezündet, und so sahen wir ihn trotz Regenwolken nochmals in seiner vollen Pracht leuchten. Feuerwerk schossen sie auch überall rundherum in die Luft.

Der Abend wurde dann natürlich mit köstlichem Essen von einem lokalen Restaurant, das jemand spendierte, beschlossen – ein wunderschöner Abschluss unserer ersten Indien-Etappe.