»Monte Verità« nennen wir den Boden unseres von Wahrheitssuchern gegründetes und Wahrheit Suchenden geweihtes Unternehmen.
… dass wir keines wegs behaupten die »warheit« gefunden zu haben […], sondern dass wir entgegen dem oft lügnerischen gebaren der geschäftswelt, u. dem her konvenzioneler forurteile der geselschaft, danach streben, in wort und tat »war« zu sein, der lüge zur fernichtung, der warheit zum sige zu ferhelfen.
Ida Hofmann, Mitbegründerin des Monte Verità, um 1906
Monte Verità: Mein verlorenes und wiedergefundenes Paradies
Als Kind schuf ich mir in meiner Fantasie meine eigene, bessere Welt. Einen Ort der Freiheit, der Geborgenheit, wo es immer warm ist, wo immer die Sonne scheint, wo alle friedlich zusammenleben und mir niemand etwas anhaben kann. Wo mich nichts einengt, keine Lehrer, keine Regeln und Vorschriften und kein Zeitstress. Bei allem, was ich später tat, habe ich im Grunde immer nur nach diesem verlorenen Paradies gesucht – auf der Alp, wo ich nicht lange nach der Lehre einen Winter verbrachte, bei dem Praktikum auf einem Reiterhof, in einem Rustico im Maggiatal, im Indianertipi im Piemont, auch als ich rebellierte und alles bis an die äußersten Grenzen ausprobierte.
Dass ich nicht allein war, sondern dass es tatsächlich andere gab, die ähnliche Sehnsüchte und verrückte Ideen hatten wie ich, erkannte ich auf dem »Berg der Wahrheit«. Männer und Frauen in wallenden weißen Gewändern, einige sogar nackt, tanzen barfuß im Sonnenschein … und das war keiner meiner Tagträume: Vor 100 Jahren versuchten ein paar Menschen – Künstler, Rebellen und Anarchisten – weitab von Bürgertum und Industriegesellschaft ihre Vision des »wahren Lebens« zu verwirklichen. In wilder Ehe und Früchte essend lebten sie auf jenem Berg ihre Utopien, gaben ihm seinen heutigen Namen – Monte Verità –und legten mit ihren revolutionären Konzepten unter anderem das Fundament für die moderne Ökologiebewegung, den Veganismus oder die Gleichstellung der Frau.
Monte Verità: Anziehungspunkt für Wahrheitssucher aller Art
Auch wenn ich als Kind noch nicht den ganzen Hintergrund verstand, war ich fasziniert von diesem magischen Ort. Er liegt oberhalb meines Heimatortes Ascona, wo wir immer die Ferien verbrachten, und schon von klein auf habe ich mich diesem verrückten, bunten Künstlerdorf zugehöriger gefühlt als dem kalten, grauen Zürich und seiner nach Gülle miefenden ländlichen Agglomeration. Schon damals zog mich der Monte Verità in seinen Bann – und er hat mich mein ganzes Leben lang nicht mehr losgelassen. Während meiner Grafiker-Ausbildung eiferte ich den namhaften Künstlern nach, die dort Inspiration gesucht hatten: Marianne von Werefkin, Alexej Jawlensky, die Dadaisten Hugo Ball, Hans Arp, Emmy Hennings. In meiner späteren, wilden Zeit identifizierte ich mich mit Asconas eher düsteren Gestalten: Otto Groß, Kokainjunkie, oder Friedrich Glauser, Schriftsteller und Morphinist, die beide dort auf dem Berg Frieden suchten und Freiheit von ihrer Drogenabhängigkeit – so wie übrigens auch Hermann Hesse, der in der Naturheilanstalt auf dem Monte Verità 1907 eine Alkoholentziehungskur machte.
Monte Verità: Geburtsstätte der ersten Veganer
Tatsächlich hat die amerikanische Health-Food-Bewegung hier ihre Ursprünge. Hier lebten die ersten Veganer, auch wenn es dieses Wort im Jahre 1900 noch nicht gab. »Vegetabilisten« wurden sie genannt. Henri Oedenkoven, Industriellensohn aus Antwerpen und Gründer des Monte Verità, wuchs in dem konventionellen Milieu einer verwöhnten und gelangweilten Gesellschaftsklasse auf. Gedankenlos genoss er alle Vergnügungen des Wohlstands – und wurde dadurch schwer krank, litt bereits mit 30 Jahren an Gelenkrheumatismus und Magenproblemen. In der Naturheilanstalt von Arnold Rikkli im heutigen Slowenien wurde Oedenkoven nicht nur gesund, er lernte dort auch seine zukünftige Lebensgefährtin kennen, die Feministin Ida Hofmann. Der Traum, eine Kolonie zu gründen, um zwischen Kapitalismus und Kommunismus in den Kräften der Natur das Heil und die Wahrheit zu finden, nahm Gestalt an. Zusammen mit den Gräser-Brüdern Gusto und Carl, einem Ex-Offizier und einem jungen Maler, zogen Ida und Henri südwärts, um ein geeignetes Stück Land zu finden. Sie entschieden sich schließlich für einen Hügel am oberitalienischen Lago Maggiore im Tessin, den Oedenkoven günstig kaufte und den sie »Berg der Wahrheit« tauften. Schnell wurden sie als »Naturmenschen« berühmt, denn sie verrichteten in Reformkleidern und mit langen Haaren harte Garten- und Feldarbeit, bauten schlichte Hütten, badeten nackt. Sie ernährten sich unter Vermeidung aller tierischen Nahrung nur von Gemüsen und Früchten, verzichteten auch auf Salz, Alkohol, Tee, Kaffee und Tabak.
Monte Verità: Spielwiese für Nudisten, Querdenker und Blumenkinder
Die Intensität dieses Lebensstils lockte rasch Außenseiter der Gesellschaft aus ganz Europa und aus Übersee an: Theosophen, Lebensreformer, Anarchisten, Kommunisten, Sozialdemokraten, Psychoanalytiker, dann Literaten, Schriftsteller, Dichter und Künstler und schließlich die Emigranten der beiden Weltkriege. Und bald fielen auch die ersten Schatten auf das Paradies: Geldprobleme, Meinungsverschiedenheiten. Die Zugeständnisse, die Oedenkoven schließlich mit der Aufnahme von zahlenden Kurgästen an die Zivilisation machte, um überleben zu können, gefielen den Brüdern Gräser nicht. Sie distanzierten sich; Gusto Gräser lebte fortan ein Leben in »heilbringender Bedürfnislosigkeit« in einer Höhle bei Arcegno, während Oedenkoven sein »Salatorium« verwirklichte, wie es von bösen Zungen genannt wurde. Er hatte jedoch ständig mit finanziellen Nöten zu kämpfen und war später sogar gezwungen, die strikten Ernährungsbestimmungen zu lockern und auch Fleisch zu servieren, um genügend Gäste zu haben. Zunächst versuchte er aber, sein Unternehmen durch einen berühmten Fastenkünstler zu retten: Arnold Ehret, der sich wie Oedenkoven (und übrigens auch ich) durch Rohkost von schwerer Krankheit geheilt und in Köln einen Fasten-Weltrekord von 49 Tagen aufgestellt hatte. Ehret leitete auf dem Monte Verità ab 1907 eine »Schule für leibliche und geistige Diätetik«. Unter seinem und Gusto Gräsers Einfluss machte auch Hermann Hesse einen längeren Rohkost-Versuch in den Bergen von Ascona.
Monte Verità: Ursprung der Natural Hygiene, der natürlichen Gesundheitslehre
1914 ging Ehret in die USA und wurde dort zum Pionier der Natural Hygiene – der natürlichen Gesundheitslehre. Die Alternativbewegung der 1970er-Jahre entdeckte Ehrets Lehren wieder, verschiedene Bücher erschienen. »Fit for Life« von Harvey Diamond wurde in den 1980er-Jahren weltbekannt und basiert ebenfalls auf der Natural-Hygiene-Bewegung. Das Buch ist ein Klassiker, der heute nichts von seiner Gültigkeit verloren hat. Zentraler Punkt ist eine »Food-Leiter«, die morgens mit den am leichtesten verdaulichen Lebensmitteln beginnt – Früchten. Fleisch und Milchprodukte sind zwar ab und zu abends als Ausnahme erlaubt, und das Buch enthält auch ein paar entsprechende Rezepte, aber nur, weil vielen der Verzicht so schwer fällt. Später entwickelte sich daraus das Trennkost-Prinzip, bei dem Tierprodukte von Kohlenhydraten getrennt gegessen werden. Sicherlich bringt das eine leichte Verbesserung, da all das Fett und Eiweiß im Darm dann etwas weniger fault und gärt. In zahlreichen Diäten werden deshalb Kohlenhydrate einfach verboten – dabei ist es genau umgekehrt: Sie sind der Schlüssel zu Gesundheit und Schlankheit. Das Argument, das so gerne herangezogen wird, dass unsere Vorfahren Jäger waren, ist falsch. Sie mögen vielleicht dazu gezwungen gewesen sein, Fleisch zu essen, um nicht zu verhungern, doch es ist nicht unsere natürliche Nahrung. Wie schon Darwin erkannte, gibt es genügend einleuchtende Beweise, dass wir Menschen, wie alle anderen Primaten, Früchte- und keine Fleischesser sind.
Die Philosophie des Monte Verità: heute aktueller denn je
Viele Irr- und Umwege führten mich Schritt für Schritt zurück zu den Grundsätzen des Berges der Wahrheit. Er hat nie aufgehört mit mir zu sprechen, hat immer mit verschiedenen Stimmen, mit seiner Weisheit, auf meine vielen Fragen geantwortet, und er war immer da als Anlaufstelle für meine Ängste und Utopien. Jetzt hat sich der Kreis geschlossen. Ich bin nicht mehr auf der Suche, nicht mehr auf der Flucht vor der realen Welt. Der Monte Verità ist überall, in mir. Aber immer noch, wenn ich fast täglich den Berg bewandere und gelegentlich seine Schönheit mit der Kamera einzufangen versuche, stelle ich mir gerne vor, wie vor 100 Jahren die ersten Veganer auf ihrem Berg nach einem besseren Leben gesucht haben …
… Und meine Vision ist, dass diese Lebensart in nicht allzu ferner Zukunft das ersetzen wird, was wir heute als »normal« bezeichnen und was in Wahrheit so abartig ist. Denn inzwischen sind es nicht mehr nur ein paar einzelne Verrückte, Idealisten und Pioniere, die diese Philosophie leben. Immer mehr Menschen wachen auf, stellen unsere auf Tierleid, Ausbeutung und Konsumwahn aufgebaute Gesellschaft in Frage und suchen nach Auswegen. Es gibt sie. Es gibt eine andere, harmonischere Art zu leben, und wir brauchen dafür nicht auf einen abgelegenen Berg oder eine Insel zu gehen. Wenn wir wieder lernen, unseren Körper zu verstehen und ihm das zu geben, was er wirklich braucht, wird dies automatisch auch unsere Lebensweise und unser Bewusstsein verändern … und dann wird vielleicht auch die ganze Erde zu einem besseren Ort: zu dem Paradies, das sie einst war und das wir im Grunde unseres Herzens alle suchen.
Dieser Text ist ein Auszug aus dem Buch: Wahre Ernährung von Nicole Selmi
Weiterführende Links über den Monte Verità:
Offizielle Website mit aktuellem Veranstaltungskalender: monteverita.org (Tipp: das vegane Menü im Restaurant ist fantastisch!)
Website über Gusto Gräser (nicht schön aber sehr informativ). Von dort stammt auch das Zitat am Anfang dieses Beitrags. gusto-graeser.info