18. Januar 2019
Ich wache kurz nach sechs Uhr auf, als es hell wird. Einen Moment lang muss ich mich erst zurechtfinden, betrachte das Lichtspiel auf den Wänden des Zimmers. Dann kommt die Erinnerung zurück … und mit ihr die freudige Aufregung: alles ist neu, und obwohl die Reise lang und anstrengend war, bin ich überhaupt nicht müde. Die Geräusche von draußen sind fremdartig: unbekannte Vögel gurren, exotische Musik ist aus der Ferne zu hören, ab und zu das Motorengeräusch eines vorbeirasenden Motorrollers. Ich stehe auf und ziehe mich an – es ist bereits so warm, dass ich bloß ein leichtes kurzes Kleid überzustreifen brauche. Durch die Fliegengittertür trete ich hinaus ins Freie. Ich atme die duftende Luft ein und betrachte die Natur: Orchideen, Bananenbäume, Papyabäume, Kokos- und andere Palmen. Ich bin glücklich.
Wir haben beide davon geträumt, in einem solchen Paradies zu leben. Im September 2015 waren wir wegen unserer Zukunftspläne bei einer Finanzberatung. Wir saßen zwei Herren in Anzug und Krawatte gegenüber und brachten unser Anliegen vor: Nicht bis 65 auf die Pensionierung zu warten, sondern uns bereits mit 50 zur Ruhe zu setzen, irgendwo, wo es warm ist – und billig, denn viel besaßen wir nicht, außer unseren verrückten Ideen und Träumen. Wir waren verwundert, dass die beiden Anzugträger nicht abschätzig den Kopf schüttelten, sondern uns tatsächlich ernst nahmen und mit uns eine Strategie entwarfen, um dieses Ziel zu verwirklichen. Nach einer Stunde verließen wir zuversichtlich das Büro mit der Vereinbarung, uns wieder zu melden, wenn es soweit wäre.
Nicht einmal einen Monat später warst du tot.
Viel ist seither geschehen. Ich bin traurig, dass du nicht mehr bei mir bist, und du wirst mir für immer fehlen. Aber ich bin heute glücklich. Nicht, weil ich unseren damaligen Traum nun allein verwirkliche; sondern weil ich, durch deinen plötzlichen Tod all meiner Träume und Zukunftspläne beraubt, lernen musste, unabhängig von den äußeren Umständen inneren Frieden und Stille zu finden. Ich habe gelernt, mein Leben im Hier und Jetzt zu leben, jeden Augenblick von Neuem. Ich musste den Zwang loslassen, mir um die Zukunft Sorgen zu machen oder um «Lebenssicherheit», denn wirkliche Sicherheit kann es sowieso niemals geben (das wusstest du, mein geliebtes Sicherheitsrisiko, ganz genau). Ich, ein absoluter Kontrollfreak, musste eine Haltung der Nichteinmischung entwickeln mit dem Vertrauen, dass sich die Dinge am besten von selbst regeln. Und das haben sie getan.
Und erst jetzt wird mir klar, dass mein erster Morgen hier im Paradies der Tag ist, an dem du 50 Jahre alt geworden wärst. Ich kann dir nichts mehr zum Geburtstag schenken außer meiner Freude, und ich weiß, dass du dich mit mir freust.
In ∞ Liebe, deine Frau für immer
2015 hast du mir diese wundervolle kleine Geschichte geschrieben. Sie gehört zu den kostbarsten Erinnerungen, die ich von dir habe.
Es war einmal, vor vielen Jahren, als die Erde noch eine ganz andere war, da trat ein junges keckes Mädchen, wundervoll anzusehen und mit viel Schalk in den Augen in das Leben eines jungen, unerfahrenen und schüchternen Mannes, der noch in seiner eigenen düsteren Welt wohnte.
Für ihn war gleich klar, dass dieses bezaubernde Geschöpf die Frau seines Lebens werden müsse!
Sie wurde es auch, wie durch ein Wunder! Der junge Mann konnte sein Glück kaum fassen, doch auch sie hatte ihn auserwählt.
Die Jahre vergingen und die zwei waren meistens sehr sehr glücklich zusammen.
Das junge Mädchen reifte zu einer wunderbaren Frau heran. Sie entwickelte sich immer weiter, hörte damit nicht auf, ihr Tempo wurde immer schneller und schneller und rasanter. Eine neue Sache jagte die andere. HighCarb folgte auf LowCarb, Veganismus dem Vegetarismus, den Drogen folgte die totale Nüchternheit, dem Ausschlafen das frühe Aufstehen, ein Hund dem nächsten. Was konstant blieb, war ihre Liebe dem zum Teil überforderten Jüngling gegenüber, dem die ersten grauen und weißen Haare wuchsen, der geistig gerne faul blieb und den das unheimliche Tempo seiner Frau manchmal in den Wahnsinn trieb, der damit überfordert war und einfach lieber seine Ruhe gehabt hätte. Der nur seiner Frau mit staunenden Augen und offenem Mund folgen konnte – leider rann in seinen offenen Schlund zum Leidwesen aller nur literweise Alkohol und nicht der Trank der Weisen.
Was aber konstant blieb bei dem jungen und kecken Mädchen und auch bei der reifen, wundervollen Augenweide von Frau, war ihre Liebe und Treue und Leidenschaft für den leicht geistig behinderten Bubi an ihrer Seite. Stets stand sie hinter ihm, wenn der Gegenwind zu stark blies, wenn seine Angst die Oberhand ergriff, wenn ihm die Panik den Mund verschloss und sein Denken abstellte. An irgendwelchen -ismen kann die Welt und auch einzelne Geschöpfe zugrunde gehen und in dieser Geschichte war die Gefahr zuweilen sehr groß, schien manchmal übermächtig zu werden, aber wie in jedem Märchen will man unbedingt den letzten Satz lesen, der am Schluss steht und den jedes Kind auswendig kann.
Der wundervollen reifen Frau wuchsen im Laufe der Jahre auch einige Sorgenfalten und einige weiße Haare zierten ihr Haupt, weil auch sie ab und an stark leiden musste und krank wurde ihres Mannes wegen, als sie mitansehen musste, wie zeitweise die tollsten Hunde der Welt vernachlässigt wurden, diejenigen Hunde, die für ihren Herrn in den Tod gehen würden. Alles, was unsere Protagonisten erschaffen hatten, drohte zerstört zu werden, stand zuweilen vor dem Abgrund.
Doch diese einzigartige Frau, diese Kämpferin vor dem Herrn, diese Löwin im Namen der Familie gab nie auf, sie kämpfte mit ausgefahrenen Krallen, trainierte sich Extra-Muskeln im Schweiße ihres Angesichts an und hielt die mit der Zeit groß gewordene Familie mit Engelsgeduld und Bärenkräften zusammen, während ihr Mann sich geistig träge und faul in seinem Mitleid suhlte und sich ums Verrecken nicht weiterentwickeln konnte oder wollte.
Doch siehe da – wenn ihr ganz genau hinguckt, vielleicht braucht Ihr eine Lupe oder ein Fernglas dazu – seht auch ihr die ersten winzigen grünen Knospen dort in der Ferne? Im Kopf und im Herzen des nicht mehr so jungen Jünglings? Einsame kleine zerbrechliche, albinotische winzige Geschöpfe, die, wenn wir Glück haben und wir ihnen viel Geduld und Pflege entgegenbringen, zu großen Wundern heranwachsen können.
Diesen Wundern könnten wir dann Namen geben wie Selbstliebe, Abgrenzung, Verantwortung, wie geistige Entwicklung, wie seine Seele pflegen, wie Freiheit, Herr und Meister zu sein und nicht fremdgelenkt zu werden von Sklaventreibern mit den verführerischen Namen Heineken oder Sugar oder Koks oder Wodka, oder oder, ihre Namen sind Legion.
Der nicht-mehr-so-junge-Jüngling vermeint diese winzigen Sprossen keimen zu hören, wenn das zarte Geräusch nicht gerade von der millionenfachen Kakophonie des Alltages übertönt wird. Und in seinen Augen keimt somit auch Hoffnung und Zuversicht auf und immer, in jedem Augenblick seines Lebens weiß dieser Mann, dass das alles nie hätte wachsen können, wenn er nicht vom Schicksal die beste aller Frauen der ganzen Welt zur Seite gestellt bekommen hätte!
Viele Jahre später – die Welt wurde nochmals ganz anders – lebt nun dieses Traumpaar, zusammengeführt von einem göttlichen Schicksal, zusammengehalten von der wundervollen wunderschön anzusehenden kraftstrotzenden Kämpferin, diesem einzigartigen Geschöpf – in einem wunderbar warmen Land in liebevoller Zweisamkeit zusammen, ihre vielen getreuen einzigartigen 4pfotigen Freunde immer im Herzen mit dabei – und sie genießen ihr ausgefülltes Leben – denn ihre Seelen sind eine einzige.
Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute glücklich weiter, die Frau immer noch stets einige Schritte voraus :-) …
Ingo 2015